“Innovation braucht mehr als kluge Köpfe” – Interview mit Raoul Blindenbacher
Dass unser Policy Sprint sehr Methodengeleitet ist, wissen wahrscheinlich die meisten schon. Doch welche Methoden? Das Modell unseres Policy Sprints baut auf der Gouvernementalen Lernspirale (GLSp) auf.
Raoul Blindenbacher ist Politikberater, Universitätsdozent sowie Co-Autor des im Mai erscheinenden Buches “How Innovation and Learning in Politics Work” (OECD, 2023). Er hat den Ansatz der Gouvernementalen Lernspirale entwickelt und weltweit im Auftrag der OECD angewendet. Er berät Expedition Zukunft rund um den methodischen Wissensaufbau und die Konzeption kollaborativer Formate.
Inwiefern braucht es Innovation in der Politik?
Raoul Blindenbacher: Alles wird immer komplexer, schneller und undurchschaubarer. Gleichzeitig spüren die politischen Akteure den Druck immer rascher, einerseits gezielte, und andererseits alle möglichen Aspekte berücksichtigende Entscheide zu treffen. Wie soll das möglich sein? Genau deshalb braucht es Innovation in der Politik. Ohne neue Formen der Entscheidungsfindungen können wir diesen Ansprüchen unmöglich Genüge leisten.
Diese Innovation muss nicht primär inhaltlich, sondern prozessualer Natur sein. Es geht nicht um das “Was”, sondern um das “Wie” etwas gemacht wird. Inhaltliche Lösungen gibt es viele. Das Problem ist, dass sie sich oftmals widersprechen und somit politisch nicht mehrheitsfähig sind. Deswegen ist der Prozess, wie diese Lösungen entwickelt werden, so wichtig.
Welche Rolle spielen dabei Methoden?
RB: Innovation in der Politik findet nicht einfach statt. Es reicht leider nicht, gescheite Leute an einen Tisch zu bringen und zu hoffen, dass diese dann eben so gescheite Lösungen finden. Das mag vielleicht in vielen nicht-politischen Bereichen funktionieren, aber kaum in der Politik, wo die einzelnen Akteure primär eigene politische Ziele verfolgen. Dies schliesst in der Regel gemeinsam entwickelte Lösungen aus.
Deshalb muss ein politischer Innovations- und Lernprozess gezielt initiiert und methodengeleitet umgesetzt werden, damit auch die erhofften Resultate erzielt werden können. Es braucht die Methoden und aber auch die Menschen, die in diesen Prozessen mitarbeiten. Nur so können gemeinsam getragene und wirksame Lösungen entstehen.
Wieso braucht's die Gouvernementale Lernspirale?
RB: Ich komme aus den Erziehungswissenschaften und der Organisationssoziologie und habe mich mit der Frage des Lernens auf individueller und organisatorischer Ebene auseinandergesetzt. Ich musste realisieren, dass wenn sowohl die Individuen als auch die Organisationen lernen wollen, aber der politische Rahmen und der Kontext das be- oder verhindert, passiert nichts. Als Politikwissenschaftler habe ich mich deshalb mit der Frage auseinandergesetzt, wie Innovation und Lernen in die Politik integriert werden können.
Diese Erkenntnis war der Ausgangspunkt, die GLSp zu entwickeln, und zwar mit dem Ziel, eine Methode zu finden, mit der sich Problemstellungen in der Politik wirksam und nachhaltig lösen lassen. Die GLSp gibt einen Leitfaden vor, wie sich Rundtische, Workshops und Konferenzen organisieren lassen. Der Ansatz basiert auf verschiedenen theoretischen Konzepten aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen.
„Über 30 Länder weltweit nutzen die Lernspirale in den Bereichen Bildung, Finanzen, Gesundheit oder Klima.“
Um die Gefahr, von den Bedürfnissen des politischen Alltags abzuheben, zu minimieren, wird die GLSp fortlaufend weiterentwickelt. Die theoretischen Konzepte werden regelmässig auf ihre Wirksamkeit überprüft. Wenn sich deren Anwendung nicht bewährt, werden sie mit neuen Konzepten ersetzt. So wird die GLSp in der Praxis fortlaufend validiert und als Folge davon verbessert.
Entwickelt sich die Methode dann je nach Anwendungsbereich?
RB: Über die Jahre hinweg ist eine umfassende Methode zur Lösung politischer Blockaden in allen politischen Themenbereichen entstanden. Es ist richtig, dass in der Praxis die einzelnen Schritte der GLSp immer wieder neu auf den gegebenen politischen Kontext angepasst werden müssen. Dabei wird aber nicht jedes Mal die Methode selbst in Frage gestellt. Man spricht hier von einer sogenannten «Techne», das heisst der Kunst ein theoretisches Konzept auf eine immer wieder neu gestellte Problemsituation zu übertragen.
Aus den fortlaufend gewonnenen Erfahrungen wurde ein robustes methodisches Vorgehen entwickelt, welches sich inzwischen aus zehn praktischen Schritten zusammensetzt, die vorgeben, wie ein Innovations- und Lernprozess in der Politik strukturiert werden muss, um erfolgreich zu sein.
Was sind die Schlüsselelemente der GLS?
RB: Es ist schwer, einzelne Elemente hervorzuheben. Alle gemeinsam tragen zum Problemlösungsprozessen bei. Grundsätzlich würde ich drei Elemente hervorheben, wodurch sich die GLSp von den meisten ähnlich gelagerten Ansätzen unterscheidet.
Entwicklung und Umsetzung: Alle an der Problemlösung beteiligten Akteure wissen von Beginn weg, dass sie sich nicht nur an der Lösungsfindung, sondern auch an der Umsetzung aktiv beteiligen müssen. So wird automatisch sichergestellt, dass die erarbeiteten Lösungen auch tatsächlich praktisch umsetzbar sind. Das garantiert den Realitätsbezug und fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Teilnehmenden entwickeln etwas gemeinsam und jeder Einzelne ist für die Umsetzung persönlich engagiert.
Der depolitisierte Raum: Mit diversen logistischen und methodischen Massnahmen wird ein Raum geschaffen, wo die Akteure möglichst frei von hierarchischen und organisationsgebundenen Zwängen, sowie nach egalitären und partizipativen Regeln miteinander kommunizieren.
Die Spirale: Die so entwickelte Lösung gilt es dann in einen konkreten Handlungsplan praktisch umzusetzen. Dabei werden die Kriterien bestimmt, nach denen gemessen wird, ob die Lösung tatsächlich die erwünschte Wirkung entfaltet. Ist dies nicht der Fall, so ist im Sinne einer Spirale der gesamte Prozess solange zu wiederholen, bis das Problem von den Beteiligten als gelöst beurteilt wird.
Wo sonst wird die GLSp noch angewendet?
RB: Die Methode wird weltweit, inzwischen in über 30 Ländern, auf allen politischen Stufen zu den unterschiedlichsten Themen, wie Bildung, Finanzen, Gesundheit, Klima angewendet.
Eine Organisation, die die Entwicklung und Anwendung der GLSp besonders gefördert hat, ist die Weltbank, wo die Methode 2010 zum ersten Mal auch umfassend in einer Publikation mit dem Titel «The Black Box of Governmental Learning» beschrieben wurde.
Mich freut es natürlich, dass die GLSp vermehrt auch in der Schweiz angewendet wird, wie bei EZ, die die Methode auf die politischen Gegebenheiten der Schweiz angepasst hat.
Wie sehr bist du bei all diesen Umsetzungen mit einbezogen?
Raoul Blindenbacher und die GLSp | Foto: zVg
RB: Als Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Praxis spiele ich unterschiedliche Rollen: Auf der einen Seite wende ich die GLSp als Organisator und Moderator von Veranstaltungen praktisch an. Gleichzeitig berate ich private und öffentliche Organisationen, die den Ansatz selbst anwenden. Auf der anderen Seite versuche ich mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus der ganzen Welt, die Erkenntnisse aus diesen praktischen Erfahrungen zu sammeln und davon ausgehend die Methode fortlaufend weiterzuentwickeln. In meiner Lehrtätigkeit vermittle ich die Methode in diversen Fachhochschulen und Universitäten.
Wie ist es, sein Produkt einer Organisation wie EZ zu geben?
RB: Die Methode ist open source, jede und jeder kann sich diese aneignen. Ich freue mich, wenn ich sehe, dass sich jüngere Leute eben auch dafür begeistern lassen und sich für Innovation und Lernen in der Politik einsetzen. Ich wünsche mir deshalb, dass es noch viele Nachahmende gibt und sich der Ansatz möglichst noch weiter national und international verbreitet.
Mit meiner Beratung von EZ helfe ich, den Ansatz auf die Besonderheiten des politischen und wirtschaftlichen Systems der Schweiz zuzuschneiden und fallbezogen anzuwenden. Es geht dabei insbesondere um den methodischen Wissensaufbau und die Weiterentwicklung solcher kollaborativen Formate. Der Begriff des Policy Sprints gefällt mir übrigens sehr! Er beschreibt die Dynamik einer Lernschlaufe treffend. Für mich sind solche Beratungen spannend, erlauben sie mir doch ein Stück weit an der Weiterentwicklung der Methode hier in der Schweiz direkt teilzuhaben und von euren Erfahrungen zu profitieren.